Ich habe mehr von den Hungrigen
gelernt als von den Satten. Mehr von den Fragenden als von den
Wissenden. Ich habe mehr von den Zerrissenen gelernt als von den
Gelassenen, mehr von den hart Arbeitenden als von denen, die immer den
leichtesten Weg gehen. Nirgends fand ich mehr Barmherzigkeit als unter
jenen, die selbst um die niederdrückende Bürde der Schuld wissen,
nirgends mehr Großzügigkeit als unter jenen, die nichts haben. Nirgends
mehr Trost als bei jenen, die voller Tränen sind, und nirgends mehr Weisheit als unter jenen, die bereit waren, sich Narren nennen zu lassen.
Warum sollte ich jene suchen, deren Hände kampflos sind, und deren
Worte tintenschwarz, doch blutleer? Manch einer will uns unterweisen,
der auf einer Wolke seliger Unberührbarkeit sitzt, während die
redlichsten Lehrer längst unter uns sind, als nicht beachtete Niemande,
die jeden Tag aufs Neue mit dem Leben ringen und die sich jede Falte in
ihrem Gesicht, sei sie aus Lachen oder Kummer geboren, ehrlich
verdienen.
Es gibt etwas, das mit den Jahren reift: eine Ahnung
wächst in uns zum Wissen heran, dass jedes Menschenleben, sähen wir nur
genau genug hin, in uns jene Achtung, jene Ehrfurcht, ja, jene Liebe
hervorzubringen vermag, die wir so rastlos suchen, auf unseren
Meditationskissen und in den Schriften und Augen unserer Lehrer. Jene
Liebe ist unserer Erlöserin, und sie nimmt dort Gestalt an, wo wir sie
viel zu selten und oft auch viel zu spät vermuten: im Sanktum der
Begegnung.
(Giannina Wedde)Foto: www.pixabay.com
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